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Rentner und Krankenkassen
„Freiwillig“ ausgestoßen

Von Walter Budziak, 15.12.2016 (am 25.2.2017 ergänzt)

Die Protestleitstellen liegen in München und Bielefeld, Protestierende findet man aber auch in Witten: Arbeitnehmer, die Jahrzehnte lang gesetzlich krankenversichert waren, die sich als Rentner aber „freiwillig“ weiterversichern müssen. Die Beiträge schlucken mitunter mehr als die halbe Rente.


Straßenbild: „Unsolidarische Rosinenpickerei“ - Foto: wab
Krude Gesetzte treiben mit vielen arglosen Arbeitern und Angestellten ein hinterlistiges Spiel. Eine gesetzliche Rente bekommt, wer als sozialversicherungspflichtig Beschäftigter in die Deutsche Rentenversicherung (DRV) eingezahlt hat. Wie jemand die Beitragsjahre „angesammelt“ hat, ob kontinuierlich oder mit ein, zwei oder zwanzig Unterbrechungen, bleibt belanglos. Die DRV addiert die Beitragsjahre und errechnet daraus den Rentenanspruch.

Die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) zählen dagegen völlig anders. Sie summieren die Jahre zwischen dem ersten sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis bis zum Rentenantrag bei der DRV und teilen diese Zeit in zwei Hälften. Dann prüfen sie, ob der Antragsteller in 9 von 10 Jahren seiner zweiten Erwerbslebenshälfte bei einer GKV versichert war (sog. 9/10-Regelung), und entscheiden, wer in die Krankenversicherung der Rentner (KVdR) wechseln darf und wer sich entweder bei einer privaten Krankenkasse (PKV) oder "freiwillig" bei einer GKV weiterversichern muss.

Jemand kann demnach in der ersten Hälfte seines Erwerbslebens durchgängig bei einer GKV versichert gewesen sein. Wer in der zweiten Hälfte nicht auf die im Verhältnis erforderlichen 9 von 10 Jahre in einer GKV kommt, weil ein eigener Betrieb gegründet werden wollte oder Kinder erzogen werden mussten, wird nicht von der KVdR übernommen.

Ehemann zahlt Krankenversicherung der Ehefrau mit

Mit einschneidenden Folgen. Nur wenige können oder wollen in eine private Krankenversicherung (PKV) wechseln. Oft werden Anträge wegen der hohen Krankheitsrisiken auch abgelehnt. Den meisten bleibt nur, sich „freiwillig“ in einer GKV zu versichern. Anders als bei der KVdR werden die Beiträge dann allerdings nicht auf der Basis der Renteneinkommen erhoben.

Bei den „Freiwilligen“ werden alle zusätzlichen Einkünfte mit herangezogen, auch die aus Ersparnissen oder aus einer Zimmervermietung, nachdem die Kinder ausgezogen sind. Und das nicht nur zur Hälfte wie bei der KVdR bei den Rentenbezügen, sondern in voller Höhe, derzeit 14,6 Prozent. Damit aber nicht genug, sogar die Rente oder Pension eines Ehepartners wird bei der Beitragshöhe zur Hälfte mit eingerechnet, wenn der Betreffende, wie Beamte im Ruhrstand etwa, privat krankenversichert ist.

„Unsolidarische Rosinenpickerei“

Betroffen sind meist Frauen. Wie Eva Koslowski (68) in Bielefeld: seit ihrer Lehre von 1961 bis zu ihrem Rentenbeginn 2013 GKV-rechtlich erfasst, von den 52 Jahren aber nur 34 Jahre gesetzlich krankenversichert, davon 19 Jahre nach dem Tod ihres viele Jahre lang pflegebedürftigen Schwiegervaters. Um in der KVdR weiterversichert zu werden, hätte sie in den 26 Jahren der zweiten Hälfte ihres GKV-rechtlichen Erwerbslebens aber mindestens 23,4 Jahre in einer GKV versichert sein müssen.

Ihr Pech: Sie ist mit einem Beamten verheiratet. In den Jahren ohne eigenes Einkommen, in denen sie ihre beiden Kinder erzog und ihren Schwiegervater pflegte, war sie nicht über eine GKV ihres Ehemannes mitversichert. Das wäre ihr angerechnet worden. Als Ehefrau eines Beamten war sie jedoch über die Beihilfe, also privat, mit krankenversichert. Und das wird ihr angelastet. Man könne sich nicht in jungen Jahren kostengünstig privat krankenversichern, so die offizielle Begründung, um sich dann im Alter wieder kostengünstig unter den Schirm der KVdR zu stellen. „Unsolidarische Rosinenpickerei“ lautet das Stichwort.

Zwei Jahre aus der renten- und krankenversicherten Deckung gewagt

Das auch dem Wittener Rudolf K. (Name geändert) den kurz bevorstehenden Ruhestand vermiest. Seine Erwerbsbiografie teilt sich in zweimal 19 Jahre. Den Riegel vor die KVdR schieben ihm zwei Jahre von 2003 bis 2005, in denen er sich mit einer Service-Agentur aus der renten- und krankenversicherten Deckung wagte. Die Rückkehr in ein „festes“ Arbeitsverhältnis beendete das Experiment. Dem 64-Jährigen fehlen wenige Wochen zum Überspringen der 9/10-Schranke.

Anderen fehlen nur wenige Tage. Einer der Vorwürfe gegen die gesetzlichen Krankenversicherungen betrifft die gewollt oder geduldet fehlende Beratung. Wäre Rudolf K. auf das Risiko hingewiesen worden, das er einging, als er sich aus der GKV verabschiedete, hätte er schlimmstenfalls einen Kredit aufgenommen, um freiwillig weiter gesetzlich krankenversichert zu bleiben, wie er heute versichert.

Kein grundlegendes Problem fehlender Aufklärung

"Einzelne Fälle von unzureichender Information von Kassenseite" könne man zwar nicht ausschließen, beantwortet der GKV-Spitzenverband einen Brief des Wittener Bundestagsabgeordneten der SPD, Ralf Kapschack (62), an die obersten Krankenversicherer mit der Bitte, ihm die gängige Praxis bei der Information zu den möglichen Folgen einer Kündigung des gesetzlichen Versicherungsschutzes zu erläutern. Keinesfalls handele es sich aber um ein grundlegendes Problem fehlender Aufklärung durch die Krankenkassen.

Gleichwohl sei es aber "eine Überlegung wert, einen Hinweis zur KVdR-Thematik in das amtliche Informationsblatt der BaFin (Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, Anm. d. Red.) aufzunehmen, ... welches über die verschiedenen Prinzipien der gesetzlichen sowie der privaten Krankenversicherung aufklären soll", regt der GKV-Spitzenverband abschließend dann doch an.

Nur 46 Prozent „überwiegend gesetzlich rentenversichert“

Zahlen werden statistisch nicht erfaßt, wie auch die DRV Westfalen in Münster mitteilt. Rentenversicherung und Krankenversicherung seien grundsätzlich getrennte Systeme.

Die Datenbasis fuße auf der amtlichen Statistik des Bundesgesundheitsministeriums und unterscheide „leider nicht differenziert nach regionalen Aspekten“, beantwortet der GKV-Spitzenverband in Berlin die Frage, wie hoch 2015 in Witten der Zuwachs an Rentenbeziehern war und wie viele davon nicht in der KVdR versichert werden konnten.

Nach der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (GBE-Bund) waren 2015 von den 17,25 Mio. Rentnern in Deutschland 0,5 Mio. oder 3 Prozent „freiwillig“ in einer GKV versichert. Gleichzeitig waren in Witten 22 000 Bürger älter als 65 Jahre. Wenn nur ein Drittel davon (rund 7 300) eine gesetzliche Rente bezöge, könnten statistisch nur 7 080 in die KVdR gewechselt sein, 220 müßten sich „freiwillig“ weiter gesetzlich krankenversichert haben.

Laut Statistik der Deutschen Rentenversicherung waren 2014 (Stand: 31.12.) in der Altersgruppe der 60- bis 64-Jährigen in den alten Bundesländern lediglich 65 Prozent der Männer und 46 Prozent der Frauen „überwiegend gRV versichert“ (gesetzlich rentenversichert). Der Schluss liegt nahe, dass davon infolge prekärer Arbeitsverhältnisse deutlich mehr als 3 Prozent die Anforderungen der KVdR nicht erfüllen werden.

Bemerkenswerte Großzügigkeit bei anderen Personengruppen

Der rigiden KVdR-Abfuhr, die vielen Rentnern einen irgendwie kalkulierten Ruhestand finanziell verhagelt, steht bei anderen Personengruppen eine bemerkenswerte Großzügigkeit des gesetzlichen Sozialsystems gegenüber. Wer mannhaft auswandert beispielsweise, auch, um sich so dem Wehr- oder Zivildienst zu entziehen, und nach drei Jahrzehnten zurückkehrt, gesundheitlich angeschlagen und weitgehend mittellos, erhält ohne Aufhebens alle Leistungen der gesetzlichen Wohlfahrt: monatlich rund 400 Euro Lebensunterhalt, Wohnung mitsamt Wasser, Strom und Heizung, Befreiung von der Rundfunkgebühr und selbstverständlich das volle Programm der medizinischen Versorgung. Ähnliche Wohltaten dürfen auch alle Asylbewerber in Deutschland vorbehaltlos beanspruchen.

9/10-Regelung "nicht Weisheit letzter Schluss“

Einen Vergleich mit den Geflüchteten, die gesetzlich geregelt ähnlich versorgt werden (allein Witten hat 2015 über 1 000 aufgenommen), lehnt der Wittener SPD-Vertreter im Bundestag, Ralf Kapschack, entschieden ab. Schließlich würden sie nicht freiwillig ihre Heimatländer verlassen. Sie gegen Einheimische und deren Probleme mit dem Sozialstaat auszuspielen, sei nicht nur falsch, sondern auch gefährlich.

Grundsätzlich gingen mit Fristen im Konkreten immer auch persönliche Härtefälle einher, „weil es dabei immer Leute gibt, die bestimmte Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllen“. Dann zu sagen, da muss man die Augen zudrücken, findet er „schwierig“. Dann könne man sich Fristen oder sonstige Voraussetzungen sparen. Zwar befürworte er „klare Regeln“, die müssten aber regelmäßig überprüft werden. Die 9/10-Regelung als „Weisheit letzter Schluss“ findet er „auch nicht in Ordnung“.

Sein Vorschlag: „Mit einer Erwerbstätigenversicherung bei der Rentenversicherung und einer Bürgerversicherung bei der Gesundheitsversorgung würden solche Probleme nicht auftauchen.“ Dann seien alle versichert, gleich ob abhängig Beschäftigte, Selbstständige oder andere, so der ehemalige WDR-Moderator.

Von einer Verantwortung freisprechen möchte Kapschack die Krankenkassen aber nicht. Sie hätten die Pflicht, ihre Versicherten über die Konsequenzen ihrer Entscheidungen zu informieren.

„Es gibt Fälle, die einfach Mist sind.“

Stefan Borggraefe (40), Ratsmitglied in der Wittener Piraten-Fraktion und für 2017 nominierter Landtagswahlkandidat, sieht das gesamte soziale System in der Pflicht einschließlich eines viel zu niedrigen Lohnniveaus und einer überfälligen Bürgerversicherung, die keinen Unterschied mehr kenne zwischen gesetzlich und privat Krankenversicherten.

Angesprochen auf die Diskrepanz bei der Versorgung zwischen einer zweifachen Mutter nach 29 sozialversicherungspflichtigen Berufsjahren, familienbedingt unterbrochen, und einem Heimkehrer nach 30-jährigem Auslandsaufenthalt, weiß auch er nicht weiter: „Es gibt Fälle, die einfach Mist sind. Wo solche Ungerechtigkeiten auftreten, müssen die Gesetze geändert werden.“ Er könne gut verstehen, wenn da jemand „sauer“ werde, so der stellvertretende Fraktionsvorsitzende.

Erwerbstätige mit Kindern benachteiligt

Als „Flickschusterei“ bezeichnet Frank Schlycht (59), Sprecher des Kreisverbands Ennepe-Ruhr der AfD, das gesamte derzeitige Konzept der gesetzlichen Krankenversicherung. Der Wetteraner war für das Wittener AfD-Mitglied Dr. Daniel Sodenkamp zum Gespräch erschienen. Er befürworte eine gesundheitliche Grundsicherung nach Schweizer Vorbild, in die alle Erwerbstätigen - Angestellte, Beamte und Selbständige - einzahlen und damit „in ein System, das den Namen 'gerecht' auch wirklich verdient“. So stehe neben der inneren Sicherheit und „disziplinierter Haushaltsführung“ die soziale Gerechtigkeit auch ganz oben auf der Themenliste für den Landtagswahlkampf im kommenden Jahr, sagt der Kaufmann und sechsfache Familienvater, der sich gute Chancen ausrechnet, bei der Bundestagswahl 2017 als Direktkandidat aufgestellt zu werden.

Konkrete Hilfe könne er dem künftigen Wittener Rentner Rudolf K. und den vielen anderen Betroffenen nicht versprechen. Auch als Abgeordneter in Berlin könne er nicht von heute auf morgen und auch nicht in einer Legislaturperiode nachholen, „was bei uns in über 40 Jahren versäumt wurde“. Überdies sei allgemein auch die 9/10-Regelung ein weiterer Beleg dafür, daß Erwerbstätige mit Kindern benachteiligt würden, wenn ein Elternteil vorübergehend nicht erwerbstätig und somit zeitweise nicht gesetzlich krankenversichert war.

Hinsichtlich der Asylbewerber und ihrer im internationalen Vergleich überdurchschnittlichen sozialen Absicherung mahnt Schlycht eine gezieltere Kontrolle der Bedürftigkeit bei der Einwanderung an.

Frage der Zuständigkeit

Bei der Krankenversicherung sei es der CDU immer wichtig gewesen, dass bei den Sozialversicherungsbeiträgen jeder Bürger wie auch bei der Steuerpflicht nach seiner Leistungsfähigkeit behandelt werde, beantwortet der Wittener Bundestagsabgeordnete Dr. Ralf Brauksiepe per Mail eine Interviewanfrage. Ergänzend stellt er lapidar fest, dass im Fall des Rentners Rudolf K. die KVdR schlicht „nicht zuständig“ sei.

Trotz wiederholter Anfrage nicht äußern wollten sich die hiesigen Vertreter der anderen, in Parlamenten vertretenen Parteien. Stellvertretend für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) angefragt, hüllt sich die IG Metall in Witten zu diesem Thema ebenfalls in Schweigen.

Kein Gesprächsbedarf auch beim ansonsten medienwirksam nicht so zimperlichen Sozialverband VdK. An der politischen Willensbildung "nehmen wir nur mittelbar ... teil, indem wir uns für die sozialen Rechte der von uns vertretenen Mitglieder einsetzen", stellt der Kreisverband Hagen/Ennepe-Ruhr in Gevelsberg per Mail klar.

Petitionsausschüsse wischen Eingaben vom Tisch

Rund 411 Euro bezieht die Bielefelderin Eva Koslowski an Rente, 260 Euro davon muß sie „freiwillig“ an ihre gesetzliche Krankenversicherung abzweigen. Nach 29 Jahren als gelernte Friseurin und spätere Arzthelferin und einschließlich ihrer Erziehungs- und Familienpflegezeiten insgesamt 52 Einsatzjahren bleiben ihr 151 Euro.

1 299 Mitstreiterinnen und Mitstreiter haben die Petition unterschrieben, die sie 2014 an den Bundestag schickte. 200 weitere Frauen standen ihr mit eigenen Petitionen an den Bundestag und an das Europaparlament zur Seite. Der Petitionsausschuss des Bundestags wischte alle Eingaben vom Tisch, ohne ein einziges Mal inhaltlich auf die Beschwerden einzugehen, so die Rentnerin auf Nachfrage. Die Antwort des Petitionsausschusses des Europaparlaments steht noch aus.

Eine der 200 anderen Petentinnen kämpfte sich vergeblich durch alle unteren gerichtlichen Instanzen. Anschließend hat das Bundesverfassungsgericht ihre Klage zugelassen. Eine Entscheidung ist seit anderthalb Jahren anhängig. Für den Fall, dass auch die Bundesverfassungsrichter die bisherigen Abweisungen bestätigen, bereitet Koslowski mit 100 anderen Frauen eine Sammelklage vor, die dann beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingereicht werden soll.

Aufnahme in die KVdR jetzt überraschend neu geregelt

Dem könnte die Bundesregierung jetzt überraschend zuvorgekommen sein. Wie das Büro des SPD-Abgeordneten Ralf Kapschack mitteilt, wurde mit einer Änderung des Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetzes (HHVG) auch die Aufnahme in die KVdR erkennbar beiläufig neu geregelt. Ab 1. August 2017 werden für jedes Kind dann pauschal drei Jahre den Vorversicherungszeiten gutgeschrieben, und zwar gezielt der zweiten Erwerbslebenshälfte, auch rückwirkend, wie Eva Koslowski auf Nachfrage bestätigt. Wie viele andere kann auch sie jetzt damit rechnen, in die KVdR aufgenommen zu werden.

Für sie ist der jahrelange, kraftzehrende Streit um etwas mehr Gerechtigkeit für gesetzlich Krankenversicherte zu Ende. Andere wollen sich damit noch nicht zufriedengeben. Sie wollen die jahrelang zu viel gezahlten "freiwilligen" Beiträge zurückfordern.

Die überhöhten Beiträge, die der Wittener Rudolf K. seit seinem Rentenbezug entrichten muss, bis das geänderte Gesetz greift, will er seiner Krankenkasse spenden. Auch auf eine Spendenquittung will er verzichten.