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AUS ALLER WELT
Reihe "Witten woanders": Wityń in Polen
Wendelicht und Wendeschatten

Von Walter Budziak

Nach der Niederlage der kommunistischen Machthaber und dem Sieg der demokratischen Opposition bei den Wahlen im Juni 1989 unter Führung des Friedensnobelpreisträgers Lech Walesa konnten auch in Wityń viele Dorfbewohner dem Aufbruch in die politische und kapitalistische Freiheit nicht folgen. Sichtbar wird die gesellschaftliche Kluft zwischen Gewinnern und Abgehängten an einem neu errichteten Gutssitz auf einer Anhöhe hinter prächtigen, vikrorianisch anmutenden Steinmauern, umgeben von riesigen Ländereien.


Wityń, Dorfstraße: restliches Dutzend Häuser - Foto: wab
Wer, wie gefühlt Tausende Lkw täglich, nur auf der Bundesstraße durch Wityń heizt, ist genau so schnell wieder rausgefahren, wie er reingefahren ist. Dass die Bundesstraße überhaupt durch Wityń führt, liegt an einem einzigen Haus, das nördlich der Asphaltschneise liegt. Das restliche Dutzend Häuser liegt auf der Südseite der Route 92 zwischen Świebodzin und Pniewy.

Drei davon liegen links von der asphaltierten Straße nach Kupienino (früher Koppen), die leicht ansteigt. Die anderen liegen an einem Feldweg parallel zur Hauptstraße, der nach rechts abzweigt. Wer in seinem Auto sitzen bleibt, wird aber auch hier keinen Bewohner entdecken. Erst für den Fußgänger mit seiner Fotokamera werden bellende Hunde besänftigt und Gittertore geöffnet.

Unterschwellig dunkle Stimmung

Andry Wilk kommt entgegen. An seinem Haus Wityń Nr. 7 endet der Dorfweg. Er versteht, weshalb der Besucher gekommen ist, seine Antworten müssen aus englisch klingenden Wortschnipseln zusammengepuzzelt werden. 49 Jahre ist er alt, als Briefträger hat er einmal gearbeitet, in dem Haus lebt er mit seiner Frau und zwei halbwegs erwachsenen Söhnen. Sein altes Haus hat er schon aufgestockt. Auf der Garage will er noch eine Terrasse bauen und nach und nach die Fassade streichen. Ihm gefällt, wie er in Wityń wohnt und lebt. Eine bezahlte Arbeit hat er nicht mehr, aber trotzdem sei alles "very good". Er wirkt heiter, trotzdem schimmert Enttäuschung durch seine Fröhlichkeit und Aufgeschlossenheit.

Bogdan Niezbecki kommt von der Straße den Dorfweg entlang. Er will zu seinem Haus, das zwei Häuser neben Andrys Haus liegt. Fremdsprachen sind ihm noch fremder. Über Andry lässt sich aber herausschälen: Bogdan ist 60 Jahre alt und wohnt erst seit zwei Jahren in Wityń. Gearbeitet hat er als Mechaniker bei der Bahn. Sein Sohn ist Polizist und wohnt in Świebodzin, seine Tochter lebt in Berlin. Sie ist Musikerin, Violinistin, sehr erfolgreich, wie später an anderer Stelle bestätigt werden wird. Anders als die Älteren konnten einige Jüngere dem Wendeschatten offenbar entkommen, der das gesamte Dorf unterschwellig in eine dunkle Stimmung taucht. Das Wendelicht scheint oben auf der Kuppe der Anhöhe.

Von Wityń ins Saarland und nach Kanada

Zurück auf der asphaltierten Dorfstraße äugt eine ältere Bewohnerin durch die Büsche, die ihr doppelstöckiges Haus abschirmen, das vor Jahrzehnten eine Villa gewesen sein könnte. Auf Fragen in Deutsch oder Englisch antworten kann auch sie nicht, aber sie versteht offenbar „Germany“ und „Journalist“ und zückt sofort ihr Handy, tippt eine Nummer ein und spricht aufgeregt.

Bis Augenblicke später Henryk Jasinski in einem blauen Kleinwagen heranfährt, den er in der Einfahrt zum Nachbarhaus parkt. Die hilfsbereite Nachbarin verschwindet scheu wieder hinter ihren Sträuchern, und Henryk erzählt. Geboren ist er in dem weißen Haus mit den grünen Schlagläden, im November 1951. Bautechniker hat er gelernt, ist aber schon 1986 ins Saarland abgewandert, wo er in Homburg bei Bosch in der Produktion gearbeitet hat. Was auch immer Henryk in den 30 Jahren in Deutschland sonst noch gemacht hat, Deutsch zu lernen gehörte nicht dazu. Seine Wortschnipsel entstammen der deutschen Sprache, was eine Verständigung etwas erleichtert.

Schwestern halten in Polen die Stellung

Seine Eltern lebten bis zu ihrem Tod in dem Haus, der Vater starb 2015, die Mutter 85-jährig erst im vergangenen Jahr 2016. Zwei Schwestern haben in Polen die Stellung gehalten, eine in ihrem Elternhaus, die andere in Świebodzin. Ein Bruder gehört auch noch zur Familie. Er lebt heute in Kanada.

Henryk hat bis 1965 in Wityń gelebt. Unbeschwert, wie er sagt. Die Schaukel aus seinen Kindertagen steht noch vor dem Haus, als trauere sie alten Zeiten hinterher. 1965, mit 14 Jahren, ging er weg aus Wityń, zog nach Gorzów, dem früheren Grünberg, wo er eine Lehre als Bautechniker absolvierte. Nach Wityń kam er danach nur noch während der Ferien. Und heute noch dreimal im Jahr, um seinen Sohn und dessen Familie zu besuchen, die sich in Rietschütz ein Haus gebaut haben. Rietschütz liegt gegenüber auf der anderen Seite der Bundesstraße. Daher konnte er auch so schnell kommen, nachdem seine ehemalige Nachbarin ihn angerufen hatte, weil ein deutscher Journalist vor ihrem Haus steht, der jemanden sucht, der ihm etwas über Wityń und seine Bewohner erzählen kann.

Trauma verpasster Gelegenheiten

Bis zum Fall des sogenannten Eisernen Vorhangs zwischen Ost und West sicherte ein landwirtschaftliches Kombinat die wirtschaftliche Grundlage des Dorfes. Die meisten der damaligen Unterkünfte würden heute von Landsleuten bewohnt, die sich anderswo keine Wohnung leisten könnten, meint Henryk. Das ehemalige Kombinat und was daraus geworden ist zu beschreiben bereitet ihm aber offenbar nicht nur sprachliche Schwierigkeiten. Mit dem privaten Landgut hügelaufwärts Richtung Kupienino kann er sich abschätzig blickend nicht abfinden. So als leide selbst er als Ausgewanderter unter einem Trauma verpasster Gelegenheiten. Konkrete Vorwürfe will er nicht machen. Aber ein Groll auf vermeintliche "Wendehälse", die den Verfall des kommunistischen Systems zu ihren Gunsten ausnutzten, klingt durch.

Mehrmaliges Läuten am schmiedeeisernen Tor des Anwesens bleibt unbeantwortet. Der Weg zum Veranlasser des Wendekaters, der Henryk und scheinbar das gesamte Dorf verfolgt, gelingt schließlich über Świebodzin (früher Schwiebus), dem Verwaltungssitz der Gemeinde, zu der Wityń gehört. Im Rathaus der Stadt mit der angeblich größten Christusstatue der Welt, dem Wahrzeichen von Rio de Janeiro nachgeahmt, greifen Bürgermeister Dariusz Bekisz und Pressesprecherin Marta Florianowicz zum Telefon.